Die deutsche Automobilindustrie – Chancen und Herausforderungen im europäischen und globalen Wettbewerb

    Berlin/Ludwigsburg, 13. Mai 2013

    Statement von Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), auf dem 24. AUTOMOBIL FORUM am 14.05.2013, Ludwigsburg

    Meine sehr geehrten Damen und Herren,

    sehr gerne habe ich die freundliche Einladung angenommen, heute zu Ihnen nach Ludwigsburg zu kommen. Die heutige Veranstaltung steht unter dem Titel „Automobilstandort Europa – Auslaufmodell oder Neustart zu alter Stärke?“. Wenn wir vom Automobilstandort Europa sprechen, denken wir zunächst vor allem an die Produktion, an die Herstellung von Pkw und Nutzfahrzeugen, an die vielen Zulieferer, die in Europa ihren Sitz haben und Kunden in aller Welt beliefern. Eng mit der Produktion verbunden ist natürlich die Beschäftigung.

    Ich sehe in dem Titel aber auch noch eine zweite Fragestellung: Wie wird sich der europäische Pkw-Markt in den nächsten Jahren entwickeln? Und: Wie werden sich in den kommenden Jahren die Relationen zwischen den großen Märkten USA, Westeuropa und China verschieben?

    Beides, meine Damen und Herren, gehört zusammen: Jeder große Markt – und Westeuropa zählt dazu mit Sicherheit – braucht auch eine entsprechend wettbewerbsfähige Produktionsstruktur, braucht eigene Werke. Daraus folgt, dass wir es mit zwei Fragen zu tun haben: Erstens: Wie wettbewerbsfähig ist der Automobilstandort Europa? Und zweitens: Wohin marschiert der westeuropäische Automobilmarkt? Ich werde mich daher in meinen Ausführungen nicht nur isoliert mit dem europäischen Markt beschäftigen, sondern die großen Entwicklungslinien aufzeigen, denen sich die deutsche Automobilindustrie als Herausforderung zu stellen hat.

    Pkw-Weltmarkt steigt 2013 auf über 70 Mio. Einheiten

    Lassen Sie mich mit den Märkten beginnen. Es mag manchen angesichts der schwierigen Lage in Europa verwundern – doch die Perspektiven für das Automobiljahr sind, weltweit betrachtet, keineswegs nur durch dunkle Wolken gekennzeichnet. Der Welt-Pkw-Markt wird 2013 um 2 Prozent auf 70,2 Mio. Einheiten wachsen. Die Dynamik kommt aus den beiden großen Regionen China und den USA. So erwarten wir für den chinesischen Markt ein Plus von 8 Prozent auf 14,3 Mio. Einheiten. Die USA werden um 5 Prozent auf 15,2 Mio. Light Vehicles zulegen, es könnte auch noch etwas mehr werden.

    Der westeuropäische Markt bleibt allerdings in diesem Jahr weiterhin in schwierigem Fahrwasser. Wir rechnen mit einem Rückgang um etwa 5 Prozent auf rund 11,1 Mio. Pkw.

    Auf die neuen EU-Länder gehe ich nur am Rande ein, sie entsprechen vom Volumen her knapp 7 Prozent des westeuropäischen Pkw-Marktes. 2013 werden sie um 2 Prozent auf rund 740.000 Pkw zurückgehen.

    Im „Rest der Welt“ bleibt die Entwicklung 2013 wie erwartet: Indien wird nur leicht zulegen – um 3 Prozent auf knapp 2,9 Mio. Neuwagen; Japan hat seine Erholungsphase nach Fukushima bereits wieder hinter sich, der Markt wird um 11 Prozent auf knapp 4,1 Mio. Pkw zurückgehen. Russland bleibt auf Vorjahresniveau (minus 1 Prozent auf 2,9 Mio. Pkw), im Mercosur-Raum ist mit einem Volumen von gut 4,3 Mio. Einheiten zu rechnen (minus 2 Prozent). Nehmen wir China und die USA zusammen, dann stehen diese beiden Länder insgesamt im Jahr 2013 für einen Weltmarktanteil von 42 Prozent (2012: 40 Prozent). Der Anteil Westeuropas geht auf 16 Prozent zurück (2012: 17 Prozent).

    Daraus folgt: Wer in China und in Nordamerika erfolgreich ist und in beiden Ländern mit seinen Modellen die Märkte bedient, kann die aktuelle Schwäche des westeuropäischen Marktes ausgleichen. Wer sich hingegen vor allem auf Europa als Absatzmarkt konzentriert – und in China oder in den USA kaum oder gar nicht vertreten ist, den trifft der Rückgang in Westeuropa mit voller Härte. Entsprechend ist die Lage in den einzelnen Unternehmen unterschiedlich. Es zeichnet die deutsche Automobilindustrie aus, dass sie frühzeitig den Weg der Globalisierung gegangen ist. Sie ist weltweit gut aufgestellt. Das macht sie so robust. Und das sichert auch Produktion und Beschäftigung am Standort Deutschland.

    China weiter auf Wachstumskurs

    Kein anderes Land hat in den vergangenen Jahren eine so rasante Wachstums-Story über das Automobil geschrieben wie China: Seit dem Jahr 2000 hat sich der Pkw-Markt in China verzwanzigfacht – von 614.000 Einheiten im Jahr 2000 auf über 13,2 Mio. Neuwagen im Jahr 2012. Das entspricht einem Weltmarktanteil von rund einem Fünftel. Allein seit dem Jahr 2008 (5,7 Mio. Pkw) hat sich das Marktvolumen in China mehr als verdoppelt. Das Potenzial ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft: Der Motorisierungsgrad in China ist immer noch vergleichsweise niedrig. Die Pkw-Dichte beträgt 44 Einheiten pro 1.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 530 Pkw pro 1.000 Einwohner. Im vergangenen Jahr wuchs der chinesische Pkw-Markt um 8,4 Prozent. Auch der Start in das laufende Jahr war von hoher Nachfrage geprägt: Im ersten Quartal 2013 legte der Pkw-Absatz um gut 25 Prozent auf über 3,9 Mio. Einheiten gegenüber dem Vorjahreszeitraum zu. Dieses Tempo wird im Gesamtjahr nicht zu halten sein, wir rechnen, wie erwähnt, mit einem Plus von 8 Prozent.

    Allerdings füge ich hinzu: Wir haben unsere China-Prognose für 2013 bereits einmal nach oben korrigiert, ursprünglich waren wir von einem Wachstum von 6 Prozent ausgegangen…

    Es unterstreicht die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie, dass sie die hohe Drehzahl in China nicht nur halten konnte, sondern dass die deutschen Konzernmarken sogar immer noch schneller wachsen als der Markt. Seit 2009 haben wir unseren Marktanteil um 4 Prozentpunkte auf 21,4 Prozent erhöht. Im gleichen Zeitraum haben die deutschen Hersteller ihren Pkw-Absatz in China auf 2,84 Mio. Einheiten nahezu verdoppelt (2009: 1,46 Mio. Einheiten). Gegenüber dem Jahr 2006 (0,74 Mio. Einheiten) haben wir unsere Pkw-Verkäufe sogar vervierfacht.

    Auch im bisherigen Jahresverlauf sind wir gut unterwegs:

    Unser Marktanteil ist in den ersten beiden Monaten auf 21,6 Prozent gestiegen. Das heißt: mehr als jedes fünfte Auto, das heute in China neu verkauft wird, zählt zu einer deutschen Konzernmarke.

    Dieser Erfolg ist natürlich nicht allein durch Export aus Deutschland zu erreichen. Wir verfolgen in China – wie übrigens in allen anderen großen Automobilmärkten auch – unsere „Zwei-Säulen-Strategie“, die Export aus Deutschland und Fertigung vor Ort umfasst. Seit dem Jahr 2005 haben wir die Pkw-Produktion in China um das Siebenfache auf 2,9 Mio. Einheiten im Jahr 2012 gesteigert. Allein im vergangenen Jahr gab es einen Zuwachs um 36 Prozent (von gut 2,1 Mio. Einheiten im Jahr 2011). Auch im laufenden Jahr wird dieser Prozess fortgesetzt. Wie sehr die Bedeutung Chinas als Produktionsstandort auch für die deutsche Automobilindustrie gewachsen ist, zeigt ein längerfristiger Vergleich: Im Jahr 2000 hatte die deutsche Pkw-Produktion in China noch einen Anteil von 9 Prozent an der gesamten Auslandsproduktion der deutschen Hersteller. Im Jahr 2012 hat sich dieser Anteil auf 35 Prozent erhöht. Gut jedes dritte Auto, das deutsche Hersteller außerhalb Deutschlands an internationalen Standorten produzieren, wird damit in China gefertigt. Ein weiterer Beleg für die gewachsene Bedeutung dieses Automobillandes: Heute produzieren die deutschen Hersteller in China mehr Autos als in der gesamten Europäischen Union (außerhalb Deutschlands), wo sie 2012 knapp 2,8 Mio. Einheiten fertigten. Seit dem Jahr 2000 hat sich der Anteil Chinas an den gesamten Pkw-Exporten der deutschen Hersteller verneunfacht. 2012 wurden 284.700 Pkw deutscher Hersteller nach China exportiert. Die Pkw-Ausfuhr von Deutschland nach China entsprach 2012 einem Exportwert von gut 12 Mrd. Euro.

    Deutsche Zulieferer haben den Hochlauf der deutschen Pkw-Hersteller in China von Anfang an mit begleitet und mit ermöglicht. Sie waren ebenfalls frühzeitig vor Ort. Alle großen deutschen Zulieferer sind in China aktiv. In den letzten Jahren haben sich in zunehmendem Maße auch mittelständische Unternehmen engagiert. Das wurde vor gut drei Wochen, auf der Auto Shanghai, noch einmal deutlich. Der VDA war mit dem Deutschen Gemeinschaftsstand vertreten, der 30 deutsche Zulieferer umfasste. Die Zahl der Fertigungsstätten deutscher Zulieferer in China ist mittlerweile auf über 200 Standorte gestiegen. Die Zahl der Beschäftigten bei deutschen Zulieferern in China hat sich um gut 15 Prozent auf über 70.000 Mitarbeiter erhöht. Auch für den Zulieferstandort Deutschland wird China immer wichtiger. Die Ausfuhr von Teilen und Zubehör aus Deutschland nach China entsprach 2012 einem Exportwert von 7,7 Mrd. Euro. Das ist ein Plus von 30 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert.

    US-Markt mit eindrucksvoller Dynamik

    Unser zweites großes strategisches Standbein sind die Vereinigten Staaten. Dort sind die deutschen Konzernmarken sieben Jahre in Folge schneller gewachsen als der Markt. Allein im Jahr 2012 steigerten sie ihren Absatz von Light Vehicles um 21 Prozent auf 1,27 Mio. Neufahrzeuge. Auch in den ersten Monaten des laufenden Jahres haben sie dieses hohe Drehmoment beibehalten: Im ersten Quartal setzten unsere Hersteller gut 8 Prozent mehr Neufahrzeuge ab. Der April war vor allem geprägt von einer lebhaften Nachfrage nach Light Trucks. Hier konnten die deutschen Konzernmarken zweistellig zulegen. Das Pkw-Segment hingegen entwickelte sich verhalten. Das war auch bei unseren Herstellern zu spüren. In den ersten vier Monaten beträgt unser Marktanteil bei Light Vehicles 8 Prozent, im Pkw-Segment sind es deutlich über 11 Prozent.

    Der US-Markt ist von einer bemerkenswerten Dynamik geprägt. 2012 legte er um gut 13 Prozent auf über 14,4 Mio. Light Vehicles zu. Mit diesem Wachstum hatte Anfang 2012 keiner der Experten gerechnet. Und im laufenden Jahr wird die 15-Millionen-Marke deutlich übertroffen. Im Vergleich mit dem Krisenjahr 2009 – damals wurden in den USA gerade einmal 10,4 Mio. Light Vehicles verkauft – wird der Hochlauf besonders deutlich: 2013 wird der US-Markt um rund 4,8 Mio. Einheiten über dem damaligen Niveau liegen. Das entspricht einem Zuwachs von 45 Prozent!

    Als ich im Januar 2010 – der Markt war im Jahr zuvor um mehr als ein Fünftel eingebrochen – in Detroit davon sprach, dass die USA „mittel- und langfristig automobiler Wachstumsmarkt bleiben“ werden, klang das für manchen wie Pfeifen im Walde. Doch die langfristigen Wachstumsindikatoren waren schon damals positiv und sind es noch heute: Das Bevölkerungswachstum liegt in den USA bei etwa +1,0 Prozent/Jahr, während es in Deutschland um die Null-Linie pendelt. Und das Durchschnittsalter der US-Bürger ist mit 37 Jahren deutlich jünger als in Deutschland (44 Jahre).

    Heute gibt es keinen Zweifel mehr: Die USA sind und bleiben Autoland. Die Bürger setzen auf individuelle Mobilität. Sie brauchen das Auto und wollen darauf nicht verzichten. Aber sie schauen immer stärker auf den Spritverbrauch. Und gerade auf diesem Feld bieten die deutschen Hersteller maßgeschneiderte Modelle an, die in ihrer Kraftstoffeffizienz von keinem Wettbewerber übertroffen werden.

    Ein Baustein unserer US-Strategie ist die gemeinsame Informationskampagne für Clean Diesel. Sechs deutsche Automobilunternehmen – die Pkw-Hersteller Audi, BMW, Daimler, Porsche und Volkswagen sowie der Zuliefererkonzern Bosch – haben vor wenigen Monaten in den USA erstmals eine gemeinsame Informationskampagne zu „Clean Diesel“ gestartet. Unter dem Slogan „Clean Diesel. Clearly Better.“ werden online die Vorteile der aktuellen Diesel-Pkw-Technologie im Vergleich zum Ottomotor hinsichtlich Sauberkeit, Verbrauch und Leistung vor Augen geführt. Die „Clean Diesel. Clearly Better.“-Kampagne, die vom VDA gemeinsam mit unseren Mitgliedsunternehmen entwickelt wurde, besteht aus einer Website (www.clearlybetterdiesel.org) und begleitenden Offline-Aktionen der beteiligten Unternehmen im US-Markt.

    Gemeinsames Ziel ist es, dem Clean Diesel in der US-Bevölkerung eine markenübergreifende Informationsplattform zu geben und die klaren Vorteile dieser Technologie aus erster Hand noch bekannter zu machen.

    Auch in den USA zahlt sich die Zwei-Säulen-Strategie unserer Hersteller aus: So erhöhte sich der US-Absatz von im Nafta-Raum (USA, Kanada, Mexiko) gefertigten Light Vehicles 2012 um ein Drittel auf 500.000 Fahrzeuge, auch die Importe aus Europa in die USA nahmen zu. Damit macht sich die deutsche Automobilindustrie auch unabhängiger von Währungsschwankungen.

    Zugleich unterstreicht diese Entwicklung die große Bedeutung Nordamerikas im globalen Produktionsverbund und als Exportdrehscheibe. Insgesamt haben die deutschen Hersteller 2012 im Nafta-Raum rund 1,24 Mio. Light Vehicles produziert, ein Plus von 27 Prozent gegenüber 2011. Damit lief mehr als jeder siebte von deutschen Herstellern im Ausland gebaute Neuwagen von Montagebändern in den Nafta-Ländern. Der Großteil davon ging in den Export; 40 Prozent wurden in den USA abgesetzt. Allein in den USA konnten die deutschen Hersteller 2012 ihre Produktion um über ein Drittel auf 641.000 Light Vehicles steigern. Zudem konnten die deutschen Hersteller 2012 ihren Export aus heimischer Fertigung in die USA um 19 Prozent auf 625.000 Pkw erhöhen. Mit einem Anteil von 15 Prozent an den gesamten deutschen Pkw-Exporten sind die Vereinigten Staaten der zweitwichtigste Ausfuhrpartner für die deutschen Automobilhersteller (nach Großbritannien).

    Wertmäßig betrachtet ist für die deutschen Hersteller der Export in die USA sogar auf Platz 1 (mit über 18 Mrd. Euro).

    Die deutschen Hersteller beschäftigten in ihren Werken in den USA rund 31.200 Arbeitnehmer. Das sind 2.400 Arbeitsplätze mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Mitarbeiter bei den Automobilherstellern insgesamt in den USA beträgt rund 172.700 Beschäftigte. Damit entfiel mehr als jeder sechste Arbeitsplatz bei Automobilherstellern in den USA auf einen deutschen Automobilkonzern. Die Zahl der Mitarbeiter bei deutschen Zulieferunternehmen in den USA stieg auf 68.000 – das ist jeder siebte Beschäftigte aller Zulieferer-Mitarbeiter in den Vereinigten Staaten. Insgesamt sind also bei deutschen Herstellern und Zulieferern in den USA rund 100.000 Mitarbeiter beschäftigt

    Weiterhin schwierige Lage in Westeuropa

    Die Lage in Westeuropa ist von Moll-Tönen geprägt. 2012 ging der Pkw-Markt um 8 Prozent auf knapp 11,8 Mio. Neufahrzeuge zurück. Unter der Schwäche Westeuropas – insbesondere in Spanien, Italien und Frankreich – leiden vor allem Hersteller und deren Zulieferer, die ihre Hauptabsatzmärkte in Europa haben und in den Wachstumsregionen USA oder China kaum oder gar nicht präsent sind. Innerhalb der letzten fünf Jahre ist der westeuropäische Pkw-Markt um drei Mio. Einheiten zurückgegangen. Im ersten Quartal 2013 war noch keine Besserung in Sicht: der Pkw-Absatz ging um 10 Prozent auf 2,9 Mio. Neufahrzeuge zurück. Für das Gesamtjahr 2013 rechnen wir mit einem leicht gebremsten Rückgang – d. h. einem Minus von 5 Prozent auf gut 11,1 Mio. Pkw. Westeuropa liegt damit rund drei Mio. Einheiten unter seinem langfristigen Durchschnittsniveau.

    Eine ähnlich rasche Erholung wie auf dem US-Markt in den vergangenen Jahren wird es in Westeuropa nicht geben. Der Prozess wird deutlich mehr Zeit benötigen. Denn die Euro-Schuldenkrise, die vor allem die Länder Frankreich, Spanien und Italien seit längerem fest im Griff hat, kann nur durch langfristig wirkende Strukturmaßnahmen überwunden werden: Die Staatshaushalte sind zu konsolidieren, die Verschuldung muss zurückgefahren werden, gleichzeitig gilt es, die Wachstumspotenziale in den einzelnen Ländern anzuregen. Das ist ein enormer Kraftakt, der insbesondere von der Politik viel Standfestigkeit fordert.

    Die Schwäche in manchen europäischen Nachbarstaaten kann uns keineswegs gefallen. Wir Deutsche brauchen starke Franzosen und Italiener, wir brauchen sie wirtschaftlich, wir brauchen sie politisch: in Brüssel ebenso wie für unsere europäischen Interessen gegenüber den Wettbewerbern aus Asien und Nordamerika.

    Auch die Produktionsstruktur innerhalb Europas verändert sich: In der Slowakei wurden im vergangenen Jahr rund 862.000 Autos gebaut (und zwar Modelle von Audi, Seat, Skoda Volkswagen, Kia und PSA Peugeot Citroen) – das sind mehr als doppelt so viele wie in Italien (rund 400.000).

    Die Prognosen (Consensus Forecasts April 2013) für Frankreich gehen 2013 von einem Rückgang der Industrieproduktion (minus 2,2 Prozent) und einem Anstieg der Arbeitslosenquote auf 10,7 Prozent aus. Der private Konsum dürfte stagnieren, die Anlageinvestitionen werden leicht rückläufig sein (minus 1,6 Prozent). Keine guten Aussichten.

    Von den großen europäischen Automobilländern ist im 1. Quartal 2013 nur Großbritannien mit einem Plus unterwegs (+7,4 Prozent). Im 1. Quartal 2013 ging der Pkw-Absatz in Frankreich um 15 Prozent zurück, in Spanien um 11 Prozent, in Italien um 13 Prozent. Auch der deutsche Markt konnte sich nicht mehr vollständig von der allgemein schlechten Konjunktur in Europa abkoppeln: Der Rückgang in den ersten drei Monaten betrug 13 Prozent. Der April brachte zwar einen ersten Lichtblick: Die Neuzulassungen in Deutschland stiegen um 4 Prozent auf 284.500 Einheiten. Allerdings standen im April auch zwei Arbeitstage mehr zur Verfügung. Insgesamt sanken die Pkw-Neuzulassungen in Deutschland in den ersten vier Monaten um 9 Prozent auf 958.500 Einheiten. Für das Gesamtjahr rechnen wir mit einem Volumen von 2,9 bis 3,0 Mio. Pkw-Neuzulassungen. Wir müssen uns in Westeuropa auf eine längere Durststrecke einrichten. Der Gegenwind ist deutlich schärfer geworden.

    Das zeigen auch die Quartalszahlen vieler Unternehmen. Unsere Hersteller und Zulieferer spüren die geringere Nachfrage auf „ihrem Heimatmarkt Westeuropa“: Nahezu jeder zweite Neuwagen (49 Prozent), der in Westeuropa verkauft wird, trägt ein deutsches Konzernmarkenzeichen. Flexibilität ist gefordert. Es ist kein Geheimnis, wenn ich sage, dass in vielen Unternehmen die Zahl der Zeitarbeitsverträge zurückgefahren wird.

    Hohe Innovationsgeschwindigkeit beibehalten

    An zwei Punkten wird aber nicht gerüttelt: Wir werden – ähnlich wie 2008/2009 – alles daran setzen, unsere Stammbelegschaften zu halten und zudem bei den Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen, die jährlich über 20 Mrd. Euro betragen, nicht nachlassen. Der Erfolg, den unsere Unternehmen derzeit in allen relevanten Märkten weltweit erzielen, ist vor allem auch auf die hohe Innovationsgeschwindigkeit der deutschen Automobilindustrie zurückzuführen. Wir haben in der Krise 2008/2009 das FuE-Tempo nicht zurückgenommen – und sind deshalb jetzt mit zahlreichen, hoch-innovativen Modellen am Markt. In Russland, China, Mexiko und im Mercosur-Raum liegt unser Marktanteil jeweils über einem Fünftel, selbst in Südkorea und Japan haben wir im bisherigen Jahresverlauf Marktanteile gewonnen.

    Wir haben den Anspruch, auch künftig die besten Autos der Welt zu bauen – mit den höchsten Effizienz-, Qualitäts- und Sicherheitsstandards, mit wegweisendem Design, anspruchsvollstem Komfort und innovativster „Connectivity“. Insbesondere das „vernetzte Fahren“ wird – neben der CO2-Effizienz der Antriebe – zu einem kaufentscheidenden Differenzierungsmerkmal. Die Frage „Auto oder Smartphone“ ist längst überholt, keine andere Branche integriert die Informations- und Kommunikations-Technologien (IKT) schneller und umfassender in ihr Produkt als die deutsche Automobilindustrie. Und: Ähnlich wie bei der Sicherheitsausstattung findet auch bei den intelligenten Assistenzsystemen eine „Demokratisierung“ statt: Ob Rückfahrkamera, adaptives Kurvenlicht, Notbremsassistent oder W-LAN im Auto – all diese Features bieten unsere Hersteller nicht nur in der Oberklasse an, sondern längst auch in der Mittel- und Kompaktklasse.

    Die deutsche Automobilindustrie ist auch deshalb so robust, weil sie seit vielen Jahren ihre Premium-Strategie konsequent verfolgt. Heute haben die deutschen Hersteller einen Weltmarktanteil bei Premiumfahrzeugen von 80 Prozent. Davon profitiert auch die Inlandsproduktion: In den letzten zehn Jahren ist der Premiumanteil an der Inlandsfertigung von 48 Prozent auf 57 Prozent gestiegen. Der Zuwachs in der Pkw-Inlandsproduktion von 265.000 Einheiten ist vor allem auf das starke Wachstum im Premiumbereich zurückzuführen. Die Stärke der deutschen Hersteller ist, dass sie Premium gerade auch in den unteren Segmenten anbieten. Premium ist heute längst nicht mehr eine Frage von Länge mal Breite mal Höhe. Premium definieren wir heute über Innovation und Qualität – und zwar in allen Segmenten.

    Wenn es eine Nachfrage in den großen aufstrebenden Schwellenländern gibt, dann die nach Markenprodukten mit höchster Qualität, anspruchsvollstem Design und eindrucksvollster Innovation. Wir sind, im Grunde genommen, die Apples der Autowelt.

    In Westeuropa staut sich mittelfristig Nachholbedarf an

    Es wäre völlig verkehrt, angesichts der schwachen Zahlen in Europa Trübsal zu blasen oder die Hände in den Schoß zu legen. Vielmehr gilt es, jetzt die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Denn eines ist auch klar: Der westeuropäische Pkw-Markt wird nicht langfristig auf diesem niedrigen Niveau verharren. Was wir derzeit erleben, ist keineswegs eine „Abkehr vom Auto“. Vielmehr wird der Neuwagenkauf momentan in vielen Haushalten in Europa hinausgeschoben, weil die Kunden verunsichert sind. Da staut sich ein erheblicher potenzieller Nachholbedarf an. Dieser kann aber erst dann realisiert werden, wenn die Menschen wieder eine Perspektive haben, wenn die Bürger wieder Vertrauen fassen. Dazu sind Wachstum und Beschäftigung in der Euro-Zone erforderlich.

    Gerade in Frankreich kommt es entscheidend darauf an, dass die Politik ihrer Bringschuld nachkommt, die Wettbewerbsfähigkeit des Landes spürbar zu erhöhen. Darauf warten nicht nur die Finanzmärkte, sondern auch die verunsicherten europäischen Verbraucher. Italien hat es zu einem Gutteil selbst in der Hand, ob und wie rasch das Konsumentenvertrauen der Bürger wieder zunimmt. Davon hängt auch die Erholung des italienischen Automobilmarktes ab.

    EU-Politik muss Industrie in den Mittelpunkt rücken

    Wir werben bei den europäischen Mitgliedsstaaten sehr für Reformen zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Das ist eine schmerzhafte, aber unvermeidliche Medizin, die wir uns auch in Deutschland verabreichen mussten. Dann kann es auch wieder aufwärts gehen. Die Lösung kann nicht darin bestehen, die Starken zu schwächen oder Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit zu verschlechtern. Wer solche Ideen verfolgt, der blendet den wachsenden Wettbewerb aus Asien, dem ganz Europa ausgesetzt ist, vollständig aus. Auch die europäischen Institutionen sind gefordert. Notwendig ist eine Politik, die in der EU die Industrie wieder in den Mittelpunkt rückt, anstatt sie zu überfordern. Für abstrakte Bekenntnisse der Politik zur Industrie in Sonntagsreden sind wir zwar dankbar, doch wirklich helfen können nur konkrete Taten werktags, in jedem Mitgliedstaat und bei jeder Maßnahme in Brüssel.

    Ein Beispiel für dieses „Überdehnen“ ist die Klimaschutzpolitik, die in Brüssel weiter vorangetrieben wird – völlig unabhängig von der derzeit schwierigen wirtschaftlichen Lage in zahlreichen EU-Ländern und ohne den volkswirtschaftlichen Aufwand gegen den umweltpolitischen Ertrag abzuwägen. In der Automobilindustrie geht es um das 95-Gramm-Ziel, das nach den Plänen der EU-Kommission bis zum Jahr 2020 erreicht werden soll. Das entspricht einer Reduktion von rund einem Drittel gegenüber dem Basiswert von 141 Gramm CO2 pro Kilometer (2010). Wir stehen zu diesem Ziel und arbeiten intensiv an der weiteren Senkung der CO2-Emissionen unserer Fahrzeuge. Doch darf dieses anspruchsvolle Ziel nicht durch bürokratische Hürden zusätzlich belastet werden. Notwendig ist vielmehr, dass alle Möglichkeiten der Flexibilisierung genutzt werden, um die Innovationen mit hohem Tempo weiter nach vorn zu treiben. Dazu gehören auch Super-Credits.

    Eine aktuelle Studie bestätigt diese Position: Die RWTH Aachen hat – im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums – eine Studie vorgelegt, die die „CO2-Reduzierungs-potenziale bei Pkw bis 2020“ untersucht: Für die europäische Automobilindustrie sei der von der EU-Kommission vorgeschlagene Grenzwert eine „zentrale Herausforderung“. Mit klassischen Antrieben allein sei das Ziel nicht erreichbar, notwendig seien zudem Autos mit alternativen Antrieben. Die Kosten für die aufwendigen Antriebstechnologien „können nicht ausschließlich von den Fahrzeugherstellern selbst getragen werden, sondern müssen an den Endkunden weitergegeben werden“, betont die Studie. Im „realistischen Szenario“ wird vorgerechnet, dass der Neuwagenkauf für die Autofahrer deutlich teurer würde, zudem würden die Herstellungskosten bei den Pkw-Unternehmen erheblich steigen. Auch wenn diesem höheren Kaufpreis geringere Kraftstoffkosten gegenüber stehen, so ist laut Studie der Einsatz von „ausgewählten Flexibilisierungsmaßnahmen“ wie etwa Super-Credits und Öko-Innovationen zwingend erforderlich, um voran zu kommen. Einfach ausgedrückt: Das 95-Gramm-Ziel wird für den Autofahrer nicht kostenneutral erreichbar sein – höchstens über einen langen Nutzungszeitraum. Wer die Pkw-Märkte kennt, der weiß, wie preissensibel der Kunde reagiert. Die EU-Kommission sollte daher alle Möglichkeiten ausschöpfen, um neue Technologieentwicklungen zu beschleunigen und um Anreize für fortschrittliche Innovationen zu setzen.

    Für den Abbau von Handelshemmnissen

    Aus der Sicht des Produktions- und Beschäftigungsstandortes Deutschland sind vor allem die richtigen Rahmenbedingungen für den Export von höchster Bedeutung. Daher setzen wir uns für den weltweiten Abbau von Handelshemmnissen ein, sind aber auch selbst offen.

    Die deutsche Automobilindustrie wird stets dort präsent sein, wo es spannende Märkte gibt. „Made in Germany“ bleibt jedoch weiterhin wichtig für das hohe internationale Ansehen unserer Marken und Produkte. Hier muss die Politik den richtigen Rahmen setzen.

    Besonders positive Effekte versprechen wir uns von einem Handelsabkommen der EU mit den USA. Die Verhandlungen sollten möglichst rasch wirklich aufgenommen werden. Dabei kommt es darauf an, vor allem die regulatorischen Hemmnisse abzubauen. Noch ist es eine Vision: ein gemeinsamer Markt EU-USA mit einem Light-Vehicles-Weltmarktanteil von rund 40 Prozent! Die Politik in USA und Europa sollte diese Vision zu ihrem gemeinsamen Verhandlungsziel machen. Wenn wir hier gemeinsame Standards und Normen finden könnten, uns also in Richtung Harmonisierung bewegen, wird das neue wirtschaftliche Kräfte in beiden Kontinenten freisetzen. Das hätte überdies eine enorme Wirkung auf den „Rest der Welt“. Besonderes Potenzial verbirgt sich dort, wo Standards völlig neu definiert werden, etwa bei der Elektromobilität. Diese Regeln sollten wir von vornherein gemeinsam gestalten.

    Zusammenfassung

     Lassen Sie mich zusammenfassen.

    -          Die deutsche Automobilindustrie ist heute stärker aufgestellt als jemals zuvor.

    -          Die Gründe hierfür sind frühzeitige Internationalisierung und eine konsequente Innovationsstrategie.

    -          Unsere Hersteller und Zulieferer stellen selbst die höchsten Qualitätsansprüche an ihr Produkt – das ist die Voraussetzung für Kundenzufriedenheit.

    -          Die Gewichte auf dem Welt-Pkw-Markt verschieben sich: China und die USA legen zu.

    -          Europa ist, zumindest vorübergehend, schwächer geworden. Der Aufholprozess wird anstrengend und fordert alle Beteiligten.

    -          Doch langfristig baut sich ein erheblicher potenzieller Nachholbedarf in Westeuropa auf. Dieser kann sich allerdings erst dann realisieren, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

    -          Trotz Krise: Westeuropa bleibt Autoland.

    -          Die Zukunft für den Produktionsstandort Deutschland liegt im Premiumbereich, da angesichts der hohen Arbeitskosten hier keine „low entry“-Produkte gefertigt werden können.

    -          Die Zahl der Wettbewerber wird bei den Herstellern weiter zunehmen (nach Japan jetzt Südkorea, mittelfristig China).

    -          Um den Standort Deutschland wetterfest zu machen, brauchen wir die passenden Rahmenbedingungen und die notwendige Flexibilität.

    -          Der Gegenwind wird härter – aber wer hart am Wind segelt, hat die Nase vorn.

     Ich danke Ihnen.