Mittelstand muss Fundament der deutschen Industrie bleiben

    Berlin, 23. September 2020

    20. VDA-Mittelstandstag mit 270 Teilnehmern – Mittelstand in Automobilbranche steht infolge von Corona und Transformation vor beispielloser Herausforderung – Ein Fünftel der Zulieferer hat nur noch Liquidität für maximal drei Monate

    „Die Coronakrise, der Umstieg auf alternative Antriebe und die Digitalisierung stellen die deutschen Zulieferer und damit viele mittelständisch geprägte Unternehmen der Automobilindustrie vor die größte Herausforderung seit ihrer Gründung. Die Coronapandemie trifft unsere Mitgliedsunternehmen in der Phase eines fundamentalen Wandels, der alle Kräfte fordert. Die kleinen und mittelständischen Betriebe der Zulieferindustrie müssen aufgrund ihrer oft sehr spezifischen Produkte häufig ein komplett neues Geschäftsmodell entwickeln“, sagt Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), in ihrem Grußwort auf dem digitalen 20. VDA-Mittelstandstag vor rund 270 Vertreterinnen und Vertretern mittelständischer Unternehmen der Automobilindustrie.

    „Nach dem weltweiten Einbruch der Märkte infolge der Coronakrise hat sich die Gesamtsituation zwar vorerst etwas stabilisiert. Aber die Krise ist damit nicht ausgestanden. Auf das Jahr gerechnet, erwarten die Unternehmen weiter erhebliche Umsatzeinbrüche. Eine Umfrage unter unseren Mitgliedsunternehmen hat zudem ergeben, dass gut jeder zweite Zulieferer davon ausgeht, erst im Jahr 2022 das Vor-Corona-Auslastungsniveau in der Produktion wieder zu erreichen“, ergänzt die VDA-Präsidentin.

    Der erstmals im digitalen Format abgehaltene VDA-Mittelstandstag steht unter dem Motto „Mittelstand im VDA: Krise und Wandel gemeinsam gestalten“. Im Rahmen der zum 20. Mal ausgetragenen Veranstaltung geht es auch um die Themen Digitalisierung, Internationalisierung und Fachkräftegewinnung. Die offene Diskussion, auch im direkten Austausch mit Herstellern und großen Zulieferern, prägt den Charakter des Mittelstandstags.

    Der enorme Anpassungs- und Innovationsdruck ist bei vielen Zulieferern besonders stark zu spüren. „Wir müssen daher leider auch mit einem weiteren Rückgang bei der Beschäftigung rechnen. Die unmittelbaren Auswirkungen von Corona auf die Arbeitsplatzsituation werden durch das Instrument der Kurzarbeit derzeit überdeckt und gemildert. Wir brauchen nun aber über Corona hinaus in Deutschland und Europa eine moderne, dem Klimaschutz verpflichtete Wirtschafts- und Industriepolitik“, so VDA-Präsidentin Hildegard Müller.

    Der vergangene Woche vorgelegte „2030 Climate Target Plan“ der EU-Kommission könne vor dem Hintergrund der Coronakrise die wirtschaftlichen und sozialen Belastungen der mittelständischen Unternehmen weiter verschärfen. „Die EU-Kommission will die EU-weiten CO₂-Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent senken. Zugleich sollen die erst vor zwei Jahren verabschiedeten CO₂-Flottengrenzwerte für Pkw bis 2030 von minus 37,5 Prozent auf minus 50 Prozent gesenkt werden. Welche Auswirkungen dieser Vorschlag auf die Wettbewerbsfähigkeit Europas hat, wird von der EU-Kommission noch nicht ausreichend beantwortet“, sagt Hildegard Müller.

    „Wir brauchen eine ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Klimapolitik, die Innovationen treibt und dabei unseren Mittelstand nicht überfordert. Ehrgeiziger Klimaschutz ist richtig. Die Industrie ist bereit, ihren Beitrag zur Erreichung der Klimaneutralität 2050 zu leisten. Wir werden uns daher aktiv in den Diskussionsprozess über die EU-Vorschläge einbringen. Wenn die Kommission 2021 verpflichtende Instrumente vorlegt, sollte sie dabei aber auch die Frage beantworten, wie die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden können und zu welchen Kosten beziehungsweise mit welchen sozialen Folgen eine weitere Absenkung der CO₂-Grenzwerte in zehn Jahren machbar ist“, erklärt Hildegard Müller.

    Über 500 der gut 600 Mitglieder des VDA sind Zulieferunternehmen. Vier von fünf Zulieferern kommen aus dem Mittelstand – oft sind diese Unternehmen familiengeführt. Die deutschen Automobilzulieferer beschäftigten im ersten Halbjahr 2020 allein im Inland gut 305.200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

    Arndt G. Kirchhoff, Geschäftsführender Gesellschafter und CEO der Kirchhoff Automotive Holding GmbH & Co. KG und Vorsitzender des VDA-Mittelstandstages, verweist in seiner Begrüßung auf die Brisanz der Situation: „Ein Fünftel der Zulieferer hat nur noch Liquidität für maximal drei Monate. Die komplette Umstellung der Produktpalette hin zur Elektromobilität hat schon in den letzten Jahren gewaltige Investitionen gefordert. Die Hausbanken vergaben schon vor Corona weniger Kredite an die mittelständischen Unternehmen. Aber Kreditprogramme sind auch jetzt keine langfristige Lösung: Die entgangenen Umsätze müssen möglichst schnell durch wieder hochlaufende Märkte ausgeglichen werden. Deshalb muss ein erneuter Lockdown unbedingt verhindert werden.“

    Politischer Gast des Mittelstandstages ist in diesem Jahr der Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung, der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Bareiß, Mitglied des Deutschen Bundestages. „Die Automobilindustrie ist eine Schlüsselbranche in Deutschland. Deshalb halte ich es für wichtig, sie in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen. Über den Transformationsprozess der Automobilwirtschaft sowie einige Maßnahmen des Konjunkturprogramms unterstützt der Bund die Branche darin, die Coronakrise zu bewältigen und sich für die Zukunft noch besser aufzustellen. Dabei haben wir insbesondere auch den Mittelstand im Blick. Wir wollen, dass Deutschland ein technologieoffener, global führender Standort der Automobilindustrie bleibt“, sagt Bareiß in seiner Keynote.

    „Der Fakt, dass sich unsere Branche wandeln muss, bleibt auch mit Corona richtig. Herausforderungen wie Nachhaltigkeit, Elektrifizierung und Digitalisierung stehen nach wie vor auf unserer Tagesordnung“, so Dirk Große-Loheide, Mitglied des Vorstands der AUDI AG Beschaffung und IT, in seinem Vortrag mit dem Titel „Blick in die Werkstatt: Transformation bei Audi“.

    Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) aller Bereiche in der deutschen Automobilindustrie lagen 2018 bei 44,6 Milliarden Euro. „Das entspricht 35 Prozent der F&E-Ausgaben der gesamten Automobilindustrie weltweit. Damit nehmen unsere Unternehmen Platz eins ein, vor den Wettbewerbern aus Japan und den USA. Das untermauert den Anspruch unserer Hersteller und Zulieferer, auch weiterhin weltweit technisch führend zu sein“, sagt Dr. Martin Koers, VDA-Geschäftsführer, in seiner Präsentation. „Durch die Kraft unserer Unternehmen und mithilfe der richtigen politischen Entscheidungen kann diese Industrie das tiefe Tal der Krise hinter sich lassen und sich noch stärker auf die Zukunftsthemen konzentrieren“, so Koers.