30 Jahre EU-Binnenmarkt

    Garant für Wohlstand und starke Industrie

    Der EU-Binnenmarkt ist einer der größten einheitlichen Märkte der industrialisierten Welt. Anlässlich des heutigen Europatages erklärt VDA-Experte Mitja Schulz im Interview, inwieweit die europäische Automobilindustrie und Wirtschaft profitieren und was passieren muss, damit das Modell Zukunft hat.

    Der EU-Binnenmarkt ist einer der größten einheitlichen Märkte der industrialisierten Welt. Anlässlich des heutigen Europatages erklärt VDA-Experte Mitja Schulz im Interview, inwieweit die europäische Automobilindustrie und Wirtschaft profitieren und was passieren muss, damit das Modell Zukunft hat.

    Der Mai ist der Europamonat, heute der Europatag. Dass wir heute die Stärke und Einheit Europas feiern können, liegt auch an der Erfolgsgeschichte des Europäischen Binnenmarktes, der 2023 seinen 30. Geburtstag feiert. Er gilt heute als eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union. Mitglieder sind die 27 EU-Staaten sowie Island, Norwegen und Liechtenstein, die mit der EU den Europäischen Wirtschaftsraum bilden.

    Der Bedeutung des Binnenmarkts ist für Deutschland immens. Die Wirtschaft erhält vereinfachten und standardisierten Zugang zu wichtigen Absatzmärkten und Handelspartnern, für Verbraucherinnen und Verbraucher werden Produkte aus dem EU-Ausland deutlich erschwinglicher, er sichert Arbeitsplätze und Wohlstand.

    Aber Fakt ist auch: Die Auswirkungen der Pandemie, des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der Energiekrise haben die Schwächen des Standortes Europa in aller Deutlichkeit aufgezeigt. Sie machen die Notwendigkeit deutlich, dass die Standortbedingungen Europas im internationalen Vergleich wieder wettbewerbsfähiger gestaltet werden müssen.

    Mitja Schulz, Leiter des VDA-Büros in Brüssel, spricht im Interview über die Errungenschaften des EU-Binnenmarktes, seine Bedeutung für die (Automobil-)industrie und was passieren muss, damit das Modell Zukunft hat.

    Welche Vorteile bringt der Europäische Binnenmarkt für seine Mitgliedsstaaten?

    Der Europäische Binnenmarkt gründet auf der Idee, dass die Welt durch Partnerschaften und einen Interessensausgleich sicherer wird. Zentral ist dabei die Freiheit des Verkehrs von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Diese vier Säulen haben die Europäische Union zu einem der weltweit größten Binnenmärkte gemacht. Mehr als 445 Millionen Menschen können Vorteile wie Sicherheit, ein vielfältiges Warenangebot und Reisefreiheit innerhalb der EU-Länder genießen.

    Weiterhin ist die EU ein Garant für Wohlstand: Der EU-Binnenmarkt beschert nach Berechnungen des Kiel Instituts für Weltwirtschaft seinen Mitgliedsländern einen Wohlfahrtsgewinn von 643 Milliarden Euro pro Jahr. Das heißt, ohne Binnenmarkt läge das Bruttoinlandsprodukt der EU um 643 Milliarden Euro niedriger. Auf Deutschland allein entfällt davon ein Wohlfahrtsgewinn in Höhe von 132 Milliarden Euro. Somit erwirtschaften die Menschen und Unternehmen im internationalen Vergleich äußerst wertvolle Güter und Dienstleistungen.

    Wie profitiert die deutsche Automobilindustrie von dem einheitlichen Wirtschaftsraum?

    Die wirtschaftliche Integration Europas hat auch den Rahmen für den Erfolg der deutschen Automobilindustrie in Europa gesetzt. Um einige beeindruckende Zahlen zu nennen: 46 Prozent der Pkw-Neuzulassungen in der EU tragen das Logo einer deutschen Konzernmarke. Von den 9,6 Millionen im Jahr 2022 außerhalb von Deutschland produzierten Pkw wurden 2,7 Millionen im EU-Ausland gefertigt.

    Dabei sind die Wertschöpfungsketten über die Ländergrenzen hinweg miteinander verwoben. Deutsche Hersteller und Zulieferer besitzen nahezu in jedem EU-Mitgliedsland Produktionsstandorte, allein die Zulieferer haben EU-weit etwa 900 Standorte. Allein die deutschen OEMs beschäftigen knapp 200.000 Menschen im EU-Ausland. Die letzten Erweiterungen der EU dienen als Beispiel für den Erfolg der europäischen Integration. Für unsere Hersteller sind neue attraktive Absatz- und Produktionsstandorte entstanden. Die deutsche Automobilindustrie ist dadurch auch eine europäische Automobilindustrie geworden.

    Einheitliche Qualitätsstandards, Produktsicherheit – welchen volkswirtschaftlichen Nutzen bringt der EU-Binnenmarkt noch für unsere Branche?

    Dazu drei Beispiele. Erstens: Es gibt eine einheitliche EU-Typgenehmigung, statt vieler nationaler Bestimmungen. Wegen der einheitlichen europäischen Vorgaben, etwa für Abgasbestimmungen wie Euro 7 oder die Sicherheit in Fahrzeugen, brauchen die Automobilunternehmen weniger Varianten entwickeln und produzieren, um nationalen Vorgaben gerecht zu werden. Das bringt Kostenvorteile für die Unternehmen, die Produkte werden günstiger, wovon besonders die Verbraucherinnen und Verbraucher profitieren. Und dadurch sind die intensiven Investitionen in Forschung und Entwicklung erst möglich.

    Zweitens: Der Binnenmarkt hat innereuropäische Zollgrenzen und Handelsschranken abgebaut beziehungsweise abgeschafft. Anstatt Zollzahlungen leisten oder aufwendige bürokratische Hürden überwinden zu müssen, können sich die Unternehmen auf ihre wesentlichen Geschäftsfelder konzentrieren – ein weiterer Vorteil im Wettbewerb.

    Drittens: Wie sehr die Mitgliedsländer vom freien Warenhandel profitieren, wird an den negativen Auswirkungen deutlich, die das Beispiel des EU-Austritts Großbritanniens veranschaulicht. Seit dem Brexit-Votum haben sich die Handelsströme mit Automobilgütern aus England deutlich rückläufig entwickelt. Ein wesentlicher Grund dafür sind die zwischen Deutschland, der EU und Großbritannien aufgebauten Handelsbarrieren, die Unternehmen abschrecken, grenzüberschreitende Geschäfte zu machen.

    Ein großes Ziel der deutschen Autoindustrie ist ihre Transformation zur Klimaneutralität. Wird sie dabei ausreichend von der EU unterstützt?

    Der Kampf gegen den Klimawandel ist Hauptaufgabe unserer Generation. Die Automobilindustrie ist ein entscheidender Treiber der grünen Transformation, in dem sie beispielsweise alternative Antriebe liefert und die Elektromobilität voranbringt. Die regulatorischen Rahmenbedingungen, mit denen die Transformation erreicht werden soll, werden aber in Brüssel gesetzt. Und hier wird besonders viel von der Automobilindustrie gefordert: Stichwort „Verbrennerverbot“ im Jahr 2035 und scharfe CO₂-Reduktionsziele.

    Gleichzeitig wird aber leider nicht mit derselben Entschlossenheit daran gearbeitet, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit solche Ziele erreicht werden können. Das betrifft vor allem den Abschluss von Handels- und Investitionsabkommen, Energie- und Rohstoffpartnerschaften oder den europaweiten Ausbau des Ladenetzes – die in der Trilogeinigung bei AFIR (Alternative Fuels Infrastructure Regulation) beschlossenen Ziele bleiben leider weit hinter dem notwendigen Bedarf zurück. In Deutschland etwa geht das Verhältnis von Ladepunkten zu E-Autos immer weiter auseinander. Die Verbraucherinnen und Verbrauchen werden aber nur dann europaweit auf Elektrofahrzeuge umsteigen, wenn sie sicher sein können, dass sie diese auch flächendeckend und schnell laden können.

    Welche der angesprochenen europäischen Rahmenbedingungen sind für die Transformationsprozesse unserer Branche entscheidend?

    Aktuell laufen eine ganze Reihe an Gesetzesvorhaben, die massive Auswirkungen auf die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der Automobilindustrie haben. Dazu gehört das riesige „Fit for 55“-Paket, mit dem die EU zentrale Richtlinien und Verordnungen für die Senkung der Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 und das Erreichen der Klimaziele vorgelegt hat. Für den Automobilsektor bedeutet das de facto das Ende des Verbrennungsmotors und damit auch der Technologieoffenheit. Sinnvoller wäre es aus unserer Sicht gewesen, ein Ziel für die Netto-Treibhausgasemissionen vorzugeben, die Option für verschiedene Technologien jedoch zu erhalten. Dazu gehört auch die eben angesprochene AFIR.  

    Anderes Beispiel: Im Green Deal Industrial Plan hat die Europäische Kommission festgelegt, wie die Industrie auf ihrem Weg zur klimaneutralen Transformation und in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gefördert wird. Da geht es etwa um die Anpassung des Beihilferahmens, dahingehend, dass unternehmerische Investitionen in die Produktion von Klimaschutztechnologien stärker als bisher durch bedarfsgerechte Förderung angereizt werden können – nicht zuletzt auch, um eine Produktionsabwanderung nach außerhalb der EU zu vermeiden. Das ist zu begrüßen.

    Bestandteil dieses Plans ist auch der European Critical Raw Materials Act. Mit dieser Gesetzesinitiative bemüht sich die EU-Kommission, einen Zugang zu kritischen, strategischen und für die Transformation benötigen Rohstoffen zu sichern. Eine Liste mit strategischen Rohstoffen ist jedem Fall zu begrüßen, aber ein „one-size-fits-all“-Ansatz für die Bewertungsverfahren der Selbstversorgung, wie die Kommission es vorgeschlagen hat, ist nicht zielführend. Es besteht – wie bereits erwähnt – weiterhin großer Handlungsbedarf in der Rohstoffpolitik.

    Eine Schwachstelle des Green Deal Industrial Plans ist, dass er die Technologieneutralität in keiner Weise als zentrales Leitprinzip prominent hervorhebt. Zudem bleibt abzuwarten, ob es der Kommission und den Mitgliedstaaten gelingt, die dringend notwendige Geschwindigkeit für die Beschleunigung und Vereinfachung der Verfahren zu erreichen.

    Hohe Energiepreise, Inflation und der russische Krieg in der Ukraine strapazieren die Industrie in Europa. Welche Schritte sind jetzt entscheidend, damit Deutschland international wettbewerbsfähig bleibt und die Position der deutschen Automobilindustrie verteidigen kann?

    Zu diesen Krisen hinzu kommen die jüngsten industriepolitischen Initiativen in anderen Weltregionen, wie Chinas Fünfjahresplan 2021 bis 2025 und der US-Inflation Reduction Act. Im weltweiten Standortwettbewerb ist die EU herausgefordert wie nie. Um die europäische Wettbewerbsposition zu verbessern sind ein Blick „nach innen“ und „nach außen“ entscheidend.

    Innen heißt: Brüssel muss für attraktive Standortbedingungen sorgen, damit die Automobilindustrie und andere Industriezweige weiterhin für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung sorgen können. An diesem Punkt gibt es momentan jedoch kaum Fortschritte, dafür eine Vielzahl von weiterhin unbearbeiteten Baustellen. Um hier konkrete Beispiele zu nennen: Dringenden Reformbedarf sehe ich bei der analogen und digitalen Infrastruktur, wie der Bereitstellung von 5G-Netzen oder der Ladeinfrastruktur. Zudem wird die Registrierung von Geschäftstätigkeiten in anderen Mitgliedsländern erschwert, die Vereinheitlichung der IT-Systeme in der Zollunion läuft schleppend und es herrschen unterschiedliche Verfahren in den Verwaltungen. Wir sehen, die Liste ist lang, da muss die EU dringend ansetzen und mehr machen.

    Und worauf sollte sich der Blick nach außen richten?

    Ich kann es nicht oft genug betonen: Wir brauchen schnellstmöglich eine ambitionierte und mutige Handelsoffensive. Internationale Handelsabkommen und Rohstoff- und Energiepartnerschaften sind als Vorleistung jetzt so wichtig wie nie zuvor. Die aktuelle geopolitische Lage hat gezeigt, wie anfällig internationale Wertschöpfungsketten sind. Resiliente Wertschöpfungsketten sind für uns aber entscheidend, da wir wichtige Vorprodukte aus anderen Regionen der Welt erhalten.

    Wie etwa Halbleiter.

    Genau. Die Halbleiterkrise ist auch für die Automobilbranche noch nicht überwunden. Der Bedarf an Halbleitern in der Automobilindustrie wird sich bis zum Jahr 2030 verdreifachen. Gründe dafür sind Megatrends wie Elektrifizierung, Vernetzung und Automatisierung. Deshalb ist es enorm wichtig, dass seitens der Politik Lösungen gefunden werden, um eine Resilienz in der Lieferkette zu schaffen und auch eine eigene Komponentenproduktion aufzubauen.

    Ich halte es für die richtige Strategie, Lieferketten zu diversifizieren und auf möglichst viele Standbeine zu stellen, um Abhängigkeiten in strategisch wichtigen Bereichen zu vermeiden. Optimal sind intensive Handelsbeziehungen weltweit. In dem Zusammenhang sollte Brüssel stockende Verhandlungen zum Abschluss zu bringen. Zentral sind hier das CETA-Abkommen mit Kanada, das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen, die Abkommen mit Mexiko und Indien sowie neue Initiativen im transatlantischen Bereich.

    Im Frühjahr 2024 findet die Europawahl statt und eine neugewählte EU-Kommission wird ihre Arbeit aufnehmen. Welche Schwerpunkte spielen dann eine Rolle?

    Die nächste Kommission muss stark auf das Thema Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Standorts setzen: die Stärkung der Industrie und der Wertschöpfungsketten in Europa. Wichtig dabei ist, weiterhin global offen zu sein und für freien, fairen und regelbasierten Handel einzutreten. Gerade wir als Automobilindustrie sind auf Wachstumsmärkte angewiesen. Wir brauchen innerhalb Europas Standortbedingungen, die die Innovationskraft und Wertschöpfungskraft unserer Industrie entfesseln und nicht hemmen. Der gemeinsame Binnenmarkt ist das stärkste „Pfund“ der EU – er muss weiter gestärkt werden, um auch künftig noch ein Garant des Wohlstands und der Freiheit sein zu können und der europäischen Stimme auch in politischen Fragen internationale Relevanz zu verschaffen.

    Und grundsätzlich denke ich zudem: Der beste Weg gegen Rezession und Wohlstandverlust ist eine prosperierende Wirtschaft. Im besten Fall sind nachhaltige Investitionen in unsere Wirtschaft also auch Investitionen in uns selbst, in unsere Gesellschaft und den Klimaschutz. Dabei geht es um Teilhabe, beispielsweise, indem Mobilität auch in Zukunft für alle Menschen finanzierbar und möglich bleibt.

    Büro Brüssel

    Mitja Schulz

    Leiter